Im Rahmen eines Einführungsprogramms bei meinem neuen Arbeitgeber Tertianum, dem Spezialisten für Wohnen und Leben im Alter, durfte ich in einem Alters-Wohn- und Pflegezentrum am Zürichsee ein Praktikum in der Pflege- und Spitex-Abteilung absolvieren. Die drei Tage haben ihre Spuren hinterlassen und haben mich tief berührt. Nicht nur der Bewohner wegen, sondern vor allem auch wegen der grossartigen Arbeit der Pflegerinnen und Pfleger.
Diese bringen ein unglaubliches Einfühlvermögen, ganz viel Verständnis, die richtige Prise Humor, Geduld und ganz viel Liebe mit, in allem, was sie tun. Dies nicht nur gegenüber den Patienten, sondern auch im Umgang untereinander. Ich habe den Eindruck bekommen, dass die Mitarbeiter dort echt ihrer Berufung folgen und aus einem ganz bestimmten Holz geschnitzt sind. Nur so ist es möglich, dass diese tagtäglich Wunder vollbringen, in dem sie ganz einfach mit Herz und Verstand bei der Sache sind. Es kam mir manchmal vor, als würden sie bei ihrer Arbeit ihre eigenen Eltern pflegen. Einfach schön und faszinierend! Ich ziehe den Hut und verneige mich in tiefer Dankbarkeit vor diesen Menschen. Mögen noch ganz viele dieser Art diesen Vorbildern folgen, wird der Bedarf für Pflegebedürftige doch durch die ständig steigende Lebensdauer je länger, je grösser.
Auf der anderen Seite durfte ich die Bewohner und ihre 1000 Geschichten kennen lernen. Ich erlebte eine Achterbahn an Emotionen, manchmal durfte ich lachen, viel häufiger bekam ich jedoch feuchte Äuglein aus Freude, aber natürlich auch aus Mitgefühl. Da war die eine Dame, die in Amerika aufgewachsen war, und sich deshalb sowohl in perfektem Schweizerdeutsch als auch in Englisch unterhält. Sie liess am Vortag beim Zahnarztbesuch ihr Gebiss liegen und war so den ganzen Tag ohne unterwegs. Völlig egal, sie lachte trotzdem bei jeder sich bietenden Gelegenheit herzhaft. Das extra pürierte Mittagessen interessierte sie dann auch nicht wirklich. Da waren zwei Brüder, die in einer Wohnung zusammenleben, der eine noch ganz gut beieinander, der andere pflegebedürftig. Diese möchten möglichst nicht gestört werden, seien sie doch «genug alt» um sich selbst zu kümmern. Eine andere Madame hingegen lebt möglichst weit von ihrer ebenfalls pflegebedürftigen Schwester weg. Eine Zeit lang seien die beiden wie «Pest und Schwefel» miteinander umgegangen – heute ist das viel entspannter und frau trifft sich jeweils zu den übrigens ausgezeichnet schmeckenden Mahlzeiten.
Da gibt’s Patienten, die sich vor lauter Schmerzen nichts mehr als den Tod wünschen, in dem sie Gott immer wieder bitten, er möge sie endlich erlösen. Da kann jeweils nur der Ehemann, der ebenfalls im gleichen Haus wohnt, beruhigend einwirken und dafür sorgen, dass sich die Stimmung wieder bessert. Da gibt es auch Senioren, denen es eigentlich gar nicht so schlecht geht und sich trotzdem alles schlecht reden und ständig nach Medikamenten fragen. Auf der anderen Seite ist da die Herzensdame, die im Alter schon sehr fort geschritten ist und immer ein Lächeln auf dem Gesicht hat und beim Vorbeigehen gerne die Hand gibt oder ganz einfach umarmt werden möchte. Eine unglaublich zufriedene Frau, die auch immer wieder ein Nickerchen einlegt, dies auch mitten in der Turnstunde, und selbst da zufrieden vor sich hinlächelt. Eine andere Frau redet laut und völlig unverständlich – die Pflegerinnen vor Ort verstehen aber auch sie wunderbar. Eine weitere Dame ist dement und ruft ständig «Hilfe» - gut, dass auch da ihr Mann im gleichen Haus wohnt und die Situation immer wieder entspannen kann.
Nicht alle haben es so gut, denn eine andere Frau hat soeben ihren Ehemann verloren und ist sehr traurig. Sie ist jedoch tapfer und rauft sich langsam wieder auf, in dem sie Termine für Maniküre, Pedicure und Friseur vereinbart. Ein anderer Ur-Grossvater ist ebenfalls sehr nachdenklich und weint. Beim Nachfragen erklärt er, dass er leidet, weil die Weihnachtszeit bevorstehe und sein Kopf eigentlich gerne Geschenke, Karten und Überraschungen für die ganze Familie organisieren möchte, sein Körper aber einfach nicht mehr mag. Verzweiflung pur und so was von berührend! Die Pflegerinnen vor Ort vereinbaren, ihm zu helfen, damit er ein Teil seines Herzenswunsches doch erledigen kann. Eine ehemalige Opernsängerin ist schon sehr in die Jahre gekommen und kann nicht mehr laufen. Ihre Beine sind ganz schwarz und ihre Zehen schauen in alle Richtungen. Ich darf mithelfen, ihre Beine einzuwickeln. Sie zeigt sich dankbar und geniesst die klassische Musik im Hintergrund. Ein anderer Herr wurde grad operiert. Er erhielt einen neuen Herzschrittmacher, weil der alte keine Batterien mehr hatte. 30'000 Franken kostete das Gerät… Die meisten Pflegebedürftigen sind übrigens mit Pampers unterwegs und immer wieder mal riecht es nach Urin oder Stuhl. Gut, dass die Pflegerinnen auch da stets schnell reagieren und die Scham der Patienten rasch auflösen. So oder so habe ich immer wieder den Eindruck, dass die Bewohner ganz wie Babies oder Kleinkinder unterwegs sind. Sie sind genau so schwach und hilflos. Auch die Plüschtiere rund um ihre Betten erinnern eher an die Kindheit als ans Erwachsenensein.
Auch in der Spitex-Abteilung erlebe ich viel. In der einen Wohnung ist alles blitzblank, es stehen überall schöne Blumen herum und die Bewohnerin ist voller Lebensfreude. In der nächsten Wohnung ist es dunkel, ohne jegliches Lebenszeichen. Die Frau liegt auch um 11 Uhr noch im Bett und möchte nur eins – sterben. Ein Ehepaar ist am Morgen ganz aufgelöst: Die Frau wurde dieses Jahr gleich sieben Mal operiert – ihr Bein ist steif und sie deshalb nicht mehr mobil. Sie hörte es am Vorabend plötzlich im Nachbarzimmer rumpeln. Ihr Mann war hingefallen und hat sich verletzt. Sie ist ohnmächtig und kann nicht intervenieren. Zum Glück kann die Pflegerin per Knopfdruck gerufen und dem Mann schnell wieder auf die Beine geholfen werden. Er ist am Morgen jedoch gezeichnet, da er vor lauter Schmerzen in den Rippen kaum schlafen konnte. Wir beschliessen, ihn ins benachbarte Seespital zu bringen, damit er sich genauer untersuchen lassen kann. Um 10.20 Uhr läutet das Telefon – die zuständige Pflegerin weiss schon, um was es geht: Täglich und genau zur gleichen Zeit ruft die eine Patientin an, weil sie Schmerzmittel gegen ihre Migräne braucht. Ein anderer Herr ist der Liebling aller Pfleger, weil er einfach nur zufrieden mit sich und der Welt ist. Er nimmt es auch ganz gemütlich, schläft aus, macht sich sein Frühstück selbst und nimmt später ein «Düschli». In der Nachbarswohnung dann das pure Gegenteil: Der Herr ist genervt, wegen seinem neuen Hörgerät, das 4000 Stutz kostete und einfach nicht in seine Ohren passen will. Egal, wir schaffen es dann doch, ihm noch ein Lächeln zu entlocken. Spätestens beim Frühstück ist die Welt dann auch für ihn wieder in Ordnung.
Uff, auch wenn ich vielfach nur über die Schultern der Pflegerinnen geschaut habe und nur wenig Hand angelegt habe, bin ich nach den drei Tagen richtig «geschlaucht». Es ist jedoch eine schöne Müdigkeit, bin ich doch sehr dankbar für diese Erfahrungen. Ich bin sehr dankbar, zu wissen, dass die Gäste bei Tertianum so gut aufgehoben sind. Ich bin auch dankbar für die Erkenntnis, wie sehr es sich eben lohnt, richtig zu leben, solange es möglich ist und die Gesundheit es zulässt. Allzu schnell kommt die Zeit, in der wir in der gleichen Situation stecken und dankbar sein werden, in solch guten Händen zu sein. Darum mein Aufruf an alle Mitmenschen: geniesst das Leben so lange es geht und malt nicht alles schwarz, wenn ihr eines Tages in eine solche Lebenssituation gerät. So wie viele der Bewohner und Bewohnerinnen im besagten Wohn- und Pflegezentrum am Zürichsee.
Buch-Tipp: «5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen» von Bronnie Ware.
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Phil (Sonntag, 19 Mai 2019 11:03)
Sehr beeindrucked geschildert Alain.
Herzensdank.
Alain (Montag, 20 Mai 2019 08:30)
Dankeschön für Dein Feedback Phil!